Miroslav Kirin
Ich kann nicht widerstehen, diesen Text mit einem durchaus angemessenen Zitat zu beginnen: „Mitten in der Hälfte menschlicher Lebenszeit/befand ich mich in einem düstern und grausen Walde,/weil ich mich von dem rechten Wege verriret hatte./Und so schwer es ist, zu sagen, wie dieser wilde, rauhe und starke Wald eigentlich war, dessen Angedenken Furcht und Schrecken wieder in mir erneuert.“ Es handelt sich von gut bekannten Zeilen aus der ersten Übersetzung von Dantes Hölle – Pakà – auf das Čakavische/Tschakawische von Slavko Kalčić, die ich gerade in Pazin gelesen habe. Allerdings ist Pazin alles anderes als eine Vision von Dantes Hölle, eher ihre Antithese, außer der Paziner Hunde, welche ziemlich oft die Richtung meiner aleatorischer Wanderungen durch die Stadt und Umgebung geändert haben.
Paziner Hunde: die Stille der Hieronymus-Bosch-artigen mageren Streuner auf dem Hauptplatz, höllisch laute Hunde in den Höfen, vereintes Gebell der im Hundestall neben Potók (Paziner Bach) gesperrten Hunde.
In das Literaturhaus (Hiža od besid) eintretend merkt man sofort zwei Dinge – die erste Tür führt ins Haus rein, bzw. auf die Straße hinaus, während die zweite Tür in das Imaginäre führt (Abgrund, Wald, Potók, Vögel, Dante, Jules Verne, Poesie…). Als ich im Mai an einem Literaturabend im Rahmen des Internationalen Publizistentreffens Reise zum Mittelpunkt Europas, wessen dankbare Stipendiat ich bin, teilgenommen habe, habe ich begriffen, Pazin sei eine Stadt nach meinem Maß, ich kann eigentlich sofort hier kommen und hier leben beginnen. Das einfache Stadtzentrum mit üblich vielen Cafés, entspannte Leute, der Stadtpark (der mich sofort mit seiner botanischen Vielfältigkeit bezauberte, wo nebeneinander Brotfruchtbaum und Kornelkirsche, Kastanie und Ginkgo wachsen…). Noch immer entdecke ich ihn jeden Tag, und es nähert sich auch der letzte Tag meines einmonatigen Aufenthalts, welchen ich teilweise mit meiner Frau teilte, als wir gründlich die Ortschaften um mittelalterliche Kirchen erforschten. Die Leiterin des Tourismusbüros beehrte uns mit einem angemessenen Wort – bisci* (weil wir über sie Biska (Mistelschnaps) von einem Weinhändler aus Gračišće bestellten). Der Bisac und Biska erforschen Istrien, dabei seinen besten Kenner Branko Fučić lesend.
Neben der Natur, die mich jeden Morgen beim Öffnen der Balkontür singend begrüßt, machen Pazin vor allem die Menschen aus. Ein fleißiger, selbstverleugnender Gärtner, Eigentümer eines magischen Gartens oberhalb der Stadt; Künstler und Schmied der unfassbaren Formen, Medailleur und Phantast; der Mann, der den Reiseführer „Bäume in dem urbanen Stadtgebiet von Pazin“ geschrieben und auf die Einmaligkeit der Paziner Parkanlagen hingewiesen hat; SF-Literaturfreund und Schriftsteller und Anreger verschiedener Kulturereignisse; das Personal von Pučko učilište (Öffentliche Volkslehranstalt) – meine liebsten Gastgeber; mein „Wegführer“ (oder „putopelj“ wie von Slavko Kalčić neugebildet) durch Paziner Flussgebiet entlang der Bachufer, bis hin zum Pazinski krov und der alten Brücke, Dichter und Gewinner des Literaturpreises Goranovo proljeće wie ich; junge Ziegenquarkverkäuferin auf dem Markt; alte Frau die mich mit ihren frischen Tomaten anbietet mir nebenbei Paprikas in die Tüte schiebend; die Kellnerinnen/Intellektuellen mit welchen ich mich über Fotographie, Poesie und Philosophie unterhalte; und so fortlaufend weiter. Im Haus kann man wirklich schreiben, ich urteile nach mir selbst, weil ich hoffentlich mit meinem Vorhaben, den Hauptteil meines zukünftigen kurzen Buches über Fotographie zu schreiben, Erfolg hatte. Und Photographieren? In Pazin? Ich habe wahrscheinlich nur im Schlaf keine Fotos gemacht.
Und das zutreffende Wort (für das Haus)? Eher Tiefe, als Klarheit.
Miroslav Kirin, Pazin Juli/August 2011.
*bisci – ein Wortspiel –> von pisci – Schriftsteller, pl.; hier wird der erste Buchstabe durch b (von biska (Mistelschnaps) ersetzt; – Mistelschnapsgenießer, pl.
– dementsprechend in Singular – Bisac (m.) und Biska (f.)