Sanja Lovrenčić

Man fragt mich, wo ich war. Ich war über dem Abgrund.

Die Vögel überfliegen den Abgrund, wie im Wetteifer, als wäre es schwieriger den Abgrund zu überfliegen, als im freien Himmel zu fliegen, als hätte der Abgrund auch über sie eine Anziehungskraft, der zu widerstehen ist, zu überfliegen, einen Sturzflug zu machen und dann aufzuhören.

Dem Feldweg hinter dem Kastell entlang wachsen junge Brennnessel, die grünsten. Für die Farbe der Vegetation im Abgrund gibt es kein richtiges Wort, vergebens versuche ich mit grauen und braunen Nuancen. Das ist die Farbe des Schlamms, der nach dem Zurückziehen des Wassers geblieben und in sonnenbestrahlten Morgen trocken geworden ist, und die Farbe des Aufblühens. Und weiße Steinunterlage.

Musst man nur ein Wort für all das benutzen, könnte es „Kontrast“ sein? Der Flug und Abgrund, weiße Felsen gegenüber der sich im Abgrund versteckenden Finsternis, das Gewicht der getrockneten Erde an Bäumen und immer schneller zirkulierende Frühlingssäfte unter der Baumrinde, funkelnder Rechteck der offenen Balkontür und die Finsternis im kleinen Haus? Aus der verborgenen Dämmerung des Dachgeschosses scheint die fahlgoldene Frühlingshelle noch klarer zu sein.

„Hiža od besid“, das Literaturhaus. Ungeschickt diese schmeichelhafte Titel tragend, steige ich jeden Morgen aus der Finsternis auf den Balkon des weißen Wachhauses aus. Die Wächterin des Abgrundes. Ich stelle fest, alles steht auf seinem Platz: rechts das Kastell, Brücke in der Weite, Kieferkranz auf dem Berggrat hinter der Brücke. Das Motel links in der Ferne, seine Terrasse über die Landschaft beugend. Wenn jemand dort stehen würde, wie ich hier stehe, könnten wir einander Signale geben. Aber was sage ich dieser Person mit Flaggen- und Rauchsignalen? Der Morgen ist klar und kühl, dass haben die schon selbst gemerkt. Und der Fluss im Abgrund ist trotz allem blaugrün.

Die Kälte treibt mich vom Balkon weg. Ich schließe die Tür und setze mich zum Tisch. Eine Tasse Preiselbeerentee als die Skizze des Rituals, das mich von hier weg bringt. Dort wo heißer Sommer und eine Insel sind, wo Leute verschiedenes versuchen. Manchmal gelingt es mir, manchmal nicht. Manchmal ist der Abgrund mit seinen Vögeln und Farben lauter, so öffne ich wieder die Tür und atme die Helle tief ein. Manchmal folgt einen Satz der andere, und das Meer in meinem Buch beginnt zu schimmern.

Ich war über dem Abgrund und schrieb ein Buch über das Meer.

Es war Abend und es kamen Leute, denen ich über meine Geschichten erzählen dürfte.

Tanja kam, so standen wir eine Weile auf der Terrasse unter meinem Balkon, bevor wir zum losgingen, Brennnesseln zu sammeln.

Kinder aus der Stadtschule kamen, so war ich kurz eine Erzählerin vom alten Schlag, eine die wiedergibt, ergänzt, auf der Seil tanzt.

Ich bekam die Schere und schnitt das rote Band, und so begann Istrakon.

Dann kam endlich der Zeitpunkt in den Abgrund hinunter zu steigen, aber die Erde war noch weich von der Flut, die sich nur einige Tage vor meiner Ankunft zurückzog. So sah ich weder den Wasserschwall noch den Schluchtboden.